In Zusammenarbeit mit:
Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF)
Gemeinsam zurück in die (Ernährungs)Zukunft
Text: MAIKE SKERSTINS
Weniger Verluste bei der Lebensmittelproduktion, weniger Treibhausgasemissionen und weniger fleischbasierte Ernährung ‒ dafür mehr Regionalität, mehr Arbeitsplätze und mehr pflanzenbasierte Lebensmittel für alle. Anfang 2020 ist das Projekt FoodSHIFT 2030 in neun europäischen Städten gestartet und soll Bürgerinnen und Bürger zum Nach- und Umdenken anregen, auch, indem sie aktiv in die Forschung zur Ernährungswirtschaft der Zukunft eingebunden werden.
Für diejenigen, die lieber hören, statt lesen
DownloadLebensmittelsysteme nachhaltiger gestalten – soweit die Zielstellung des neuen Projekts. Doch wie genau sieht ein solches System eigentlich aus? Alles beginnt mit der Produktion unserer Nahrungsmittel, denn bereits bei der Ernte auf dem Feld entstehen Verluste, zum Beispiel durch das Aussortieren nicht perfekt gewachsener Produkte. Weiter geht es mit der Verarbeitung der Lebensmittel, über den Transport bis hin zum Endverbraucher, der oftmals nicht alles, was im Kühlschrank ankommt, auch verzehrt. Damit kommt die nächste Frage auf. Wohin mit dem Abfall? Restmüll oder Biotonne? Findet deren Inhalt eine regionale Verwendung, zum Beispiel als Dünger auf den Feldern?
Bei FoodSHIFT 2030 sollen Lösungen gefunden werden, die diese Kette nachhaltiger gestalten sollen, sagt die Arbeitsgruppenleiterin des Projekts, Dr. Annette Piorr vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e. V. im Brandenburgischen Müncheberg. Im Fokus stehen auch die gesundheitlichen Aspekte. Schließlich trägt eine Fehlernährung zu den Krankheiten bei, die über 70% der Todesfälle in Europa ausmachen. Die Risiken von Diabetes-Typ-2, Schlaganfällen und Infarkten können mit einer ausgewogeneren Ernährung gesenkt werden. Mehr Nüsse, Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte aus der Region auf unseren Tellern könnte unser Gesundheitssystem stark entlasten. Außerdem kann der vermehrte Verzehr von regionalen Produkten die ländliche Wirtschaft ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen. Soweit die recht einfache Theorie, in der Praxis ist das aber sehr kompliziert.
Mit weniger Akteuren zu mehr Nachhaltigkeit
Der komplexe Aufbau der globalen Ernährungswirtschaft ist undurchsichtig und mit seinen vielen Akteuren, die in den Aufbereitungs-, Verpackungs- und Distributionsstationen arbeiten, räumlich sehr weit voneinander entkoppelt. „Häufig wissen Konsumentinnen und Konsumenten gar nicht, woher das Lebensmittel eigentlich kommt und wie es hergestellt, transportiert und verarbeitet wird“, erklärt Piorr. Bei Konzepten wie der solidarischen Landwirtschaft, die auf mehr regionale Versorgung setzen, sind die Mitglieder hingegen auch mal bei der Sortierung oder der Verteilung der Ware beteiligt. „Dadurch werden es weniger Akteure, die Distanz zwischen Produzent und Konsument verkürzt sich und wir haben mehr Möglichkeiten, Ressourcen einzusparen“, zeigt Piorr anhand des Beispiels auf. Denn, der Bezug dazu, wie Nahrungsmittel hergestellt werden, ist sehr wichtig für eine Veränderung. Durch einen achtsameren Umgang mit den eingesetzten Ressourcen kann meist nicht nur nachhaltiger, sondern auch wirtschaftlicher gearbeitet werden. „Und es hat dann im günstigsten Fall auch noch Preisvorteile, weil verschiedene Stufen in der Distributionskette, die ja normalerweise auch bezahlt werden müssen, teilweise wegfallen“, ergänzt die Diplom-Agraringenieurin.
Mit einer Lebensmittelkette, die verstärkt auf regionale Produkte setzt, können die bereits vorhandenen Arbeitsplätze gesichert und gleichzeitig die Landwirtschaft für die nachfolgende Generation von Landwirtinnen und Landwirten attraktiver gemacht werden. „Große Monokulturen für den Export sind für viele nicht so attraktiv. Sie möchten gerne freie Flächen bewirtschaften mit hoher Biodiversität und für den regionalen Markt“, versichert die wissenschaftliche Mitarbeiterin und angehende Doktorin Beatrice Walthall, die das Projekte neben Annette Piorr am ZALF begleitet. Dabei soll es zukünftig eine bessere Verzahnung zwischen regionalen und globalen Systemen geben, blickt Walthall nach vorn.
Mehr Angebote schaffen
„Die Forderung: `Ihr müsst jetzt weniger Fleisch essen!´ greift hierbei zu kurz“, betont Walthall. Es gehe vielmehr darum, durch beispielhaftes Vorleben, Wissensvermittlung und Best Practice zur Nachahmung anzuregen. So könnten gerade in der Gemeinschaftsverpflegung, wie in Kantinen, einmal wöchentlich sogenannte „Veggie-Days“ eingeführt werden. Das sind Tage, an denen keine Fleischgerichte angeboten werden. Das Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher an Fleischalternativen ist jedenfalls groß, weiß Walthall. „Im neuen Ernährungsreport ist auch deutlich zu sehen, dass hier in relativ kurzer Zeit eine deutliche Veränderung stattgefunden hat“, fügt ihre Kollegin Piorr hinzu.
Durch ein neues Lebensmittelsystem könnten auch Abfälle, die eigentlich noch verwertbar sind, weiterverarbeitet werden. Anfang des Jahres wurden den 30 Projektpartnern aus 12 Ländern bei einem Kick-Off-Meeting in Kopenhagen die sogenannte „zirkuläre Ökonomie“ lebhaft vorgestellt. In einer Backstube wird, neben konventionellem Mehl, auch Treber, ein Abfallprodukt aus der Bierproduktion, verarbeitet. Mit einer solchen Wiederverwendung kann den Verbraucherinnen und Verbrauchern aufgezeigt werden, dass der Wertstoff nicht nach einmaliger Nutzung weggeworfen werden muss. „In Kopenhagen wurden so innerhalb von wenigen Monaten neue Produkte auf den Markt gebracht, neben Mehl und Chips, gibt es nun auch Frühstücksdrinks“, so Walthall. Der Wunsch vieler Konsumentinnen und Konsumenten nach mehr nachhaltigen Produkten wird hierbei berücksichtigt. Aber was bedeutet das für unser Portemonnaie?
Die Preise werden steigen, so oder so!
Die Methoden, Beziehungen und das Wissen aus der Vergangenheit werden mit dem Wissen und der Technik aus unserer heutigen Zeit kombiniert. „Es geht eigentlich zurück in die Zukunft!“, fasst Walthall zusammen. „Indem wir Bürgerinnen und Bürger aktiv in das Projekt einbeziehen, bekommt der gesellschaftliche Bedarf ein Sprachrohr.“ Hierzu gehört auch, verloren geglaubtes Wissen über Pflanzen, die vor vielen Jahrzehnten auf unseren Feldern bereits erfolgreich angebaut wurden, wieder ans Tageslicht zu fördern: Statt Soja aus Südamerika, Lupinen aus Brandenburg.
In immer mehr gesellschaftlichen Gruppen wächst der Wunsch, das Ernährungssystem regionaler und nachhaltiger zu gestalten. „Wir befinden uns derzeit in einer Ernährungswende. Und eines steht dabei fest: Die Preise, die wir jetzt haben, werden wir so nicht halten können“, ist sich Walthall sicher. „Selbst wenn die Produktion so weitergeht, werden die Preise steigen“, meint Walthall. Schließlich stoße der Umgang mit natürlichen Ressourcen auch in der Landwirtschaft zunehmend an seine Grenzen. „Lebensmittel sind insbesondere in Deutschland derzeit sehr billig, weil die Umwelteffekte nicht mitkalkuliert werden“, weiß Annette Piorr. Gleichzeitig müssen gesunde Nahrungsmittel auch Bevölkerungsgruppen zugänglich sein, die ein geringes Einkommen haben. Die Frage ist also, wie können wir unsere Nahrung unter dieses Gesichtspunkten zu fairen Preisen produzieren? Im Zuge des Klimawandels gehe es auch um das längerfristige Ziel, die Klimaflucht zu vermeiden, indem global fairere Bedingungen geschaffen werden, betonen beide Wissenschaftlerinnen.
Aber zunächst einmal: Zurück auf Anfang. Um globale und faire Lebensmittelpreise schaffen zu können, muss in kleinen Schritten daran geforscht werden. Das FoodSHIFT 2030-Projekt findet seit Januar 2020 an verschiedenen Orten in Europa statt. In den teilnehmenden Städten werden die spezifischen regionalen Herausforderungen untersucht, um anschließend optimale Lösungen für mehr Nachhaltigkeit zu erarbeiten.
Neun Städte – ein Projekt
Insgesamt neun Stadtregionen sind bei FoodSHIFT 2030 beteiligt. Für jede Stadt wurde ein spezieller Fokus festgelegt. Im ehemaligen Berliner Flughafengebäude Tempelhof wird beispielsweise ein Leuchtturmprojekt für den Übergang des Lebensmittelsystems errichtet. Der Fokus liegt hierbei auf der Einbindung der Berlinerinnen und Berliner, um deren Bedürfnisse auf politischer Ebene zu berücksichtigen. Es soll Raum für die Lebensmittelproduktion entstehen, zudem werden Kurse zur Verarbeitung der Produkte angeboten. Dieser Prototyp eines „Urban Food Hub“ („Drehkreuz städtischer Ernährung“) wird ein Ort sein, an dem Bürgerinnen und Bürger Handel betreiben und ihre Waren und Dienstleistungen anbieten und teilen können. Dieses Innovationzentrum ist ein sogenannter „Lebensmittelpunkt“ und damit ein öffentlich zugänglicher Treffpunkt für alle Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt, um sich über Innovationen im Bereich der Lebensmittelsysteme weiterzubilden. Am Standort Berlin sind neben dem ZALF auch die agrathaer GmbH beteiligt, die Wissen aus der Forschung für die Politik und Gesellschaft nutzbar macht, indem strategische und nachhaltige Konzepte entwickelt und umgesetzt werden. Ebenfalls beteiligt ist der Ernährungsrat Berlin. Die Mitglieder des Bündnisses vertreten zivilgesellschaftliche Forderungen, um sich damit politisch Gehör zu verschaffen. Das Ziel ist es, einen zukunftsfähigen Wandel des Ernährungssystems auf regionaler Ebene voranzutreiben. Die Initiative THF Vision, als weiterer Partner der Tempelhofer Initiative, ist ein gemeinnütziger Zusammenschluss von Berlinerinnen und Berliner. Gemeinsam setzen sie sich für die Nachnutzung des Flughafengeländes Tempelhofs ein.
Das Projekt ist auf eine Laufzeit von vier Jahren ausgerichtet. Nach Ende dieser Zeit sollen die Lebensmittelpunkte idealerweise weiterhin bestehen bleiben und in anderen Regionen ausgebaut werden. Noch während dieser vier Jahre sollen weitere 27 Folgeprojekte („FoodSHIFT Enabler Labs“) europaweit etabliert werden, um so das erarbeitete Wissen über nachhaltigere Lebensmittelsysteme zu teilen.
Aufbau des Projekts
Am FoodSHIFT 2030-Projekt sind insgesamt 30 Partner aus zwölf europäischen Staaten beteiligt. Zusammengesetzt aus neun kleinen und mittleren Unternehmen (KMU); sieben Nichtregierungsorganisationen (NGOs); sieben Kommunen und sieben Forschungsinstituten. Diese Partner haben sich hinsichtlich ihrer Erfahrungen im Lebensmittelsektor für die Erneuerung des Lebensmittelsystems qualifiziert. Die FoodSHIFT Kerngruppe – bestehend aus den einzelnen städtischen Projekten und deren Gemeinden – wird durch ein Lenkungsausschuss unterstützt. Dieser Ausschuss besteht aus weiteren Interessensgruppen, die an Innovationen von Lebensmittelsystemen in der jeweiligen Stadtregion arbeiten.
Das Vorhaben von FoodSHIFT ist in neun Arbeitspakete unterteilt. Das ZALF ist mit dem Arbeitspaket 4 zum Thema „Governance“ am FoodSHIFT 2030-Projekt beteiligt. Dabei werden gemeinsam mit den einzelnen europäischen Projekten Strategien für eine bürgernahe Führung des Lebensmittelsystems erstellt, um so vor Ort die Lebensmittelverwaltung zu verbessern. Beatrice Walthall ist Leiterin des Arbeitspakets 4 und betont, dass „in allen Labs die Zivilgesellschaft mit eingebunden ist, denn ein zentraler Fokus des FoodSHIFT-Projekts ist es, „bürgergetriebene“ Innovationen zu fördern“. Die Bürgerinnen und Bürger und Verantwortlichen sollen zukünftig gemeinsam bestimmen können, wie ihre Lebensmittel angebaut und verarbeitet werden. Kurzum: „Mit FoodSHIFT 2030 können die Bürgerinnen und Bürger beeinflussen, wie Lebensmittel hergestellt, verteilt, konsumiert und recycelt werden“, so das offizielle Ziel des Projektes.
Das europaweite Projekt von FoodSHIFT 2030 wird durch das EU-Programm Horizont 2020 finanziert.
Weiterführende Informationen
- Zum Projekt: FoodSHIFT 2030