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Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)

Kaum noch Erholung: Artenvielfalt in europäischen Flüssen stagniert  

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Eine männliche
Eine männliche "Theißblüte" (Europas größte Eintagsfliege, Palingenia longicauda) fliegt über die Theiß und sucht nach Weibchen, die eine halbe Stunde später als die Männchen schlüpfen. Es ist die Zeit, in der Millionen von Eintagsfliegen in riesigen Wolken aufsteigen und sich in nur wenigen Stunden vermehren, bevor sie sterben. © Solvin Zankl

Text: ANGELINA TITTMANN

Ein internationales Forschungsteam hat den Zustand und die Entwicklung der Biodiversität in europäischen Fließgewässern anhand von wirbellosen Tieren untersucht. Wie die umfangreiche Studie zeigt, hat sich die Artenvielfalt in Flusssystemen in 22 europäischen Ländern zwischen 1968 und 2010 aufgrund der verbesserten Wasserqualität zunächst erholt. Seit 2010 stagniert die Entwicklung jedoch; viele Flusssysteme konnten sich nicht vollständig regenerieren. Die Forschenden empfehlen daher dringend zusätzliche Maßnahmen, um die Erholung der biologischen Vielfalt in Binnengewässern zu fördern. Dies sei auch angesichts aktueller und zukünftig zunehmender Belastungen wie Verschmutzung, Versiegelung, Trockenheit, Erwärmung und der Ausbreitung invasiver Arten dringend erforderlich. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

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„Unsere Daten zeigen, dass sich Flüsse durchaus erholen können, wenn wir als Gesellschaft die richtigen Maßnahmen umsetzen“, sagt Prof. Dr. Sonja Jähnig, Abteilungsleiterin am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und Mitautorin der Studie. „Allerdings haben wir seit 2010 beim Zustand der Artenvielfalt kaum noch Fortschritte erzielt, sodass es heute zusätzlicher Anstrengungen bedarf.“

Nach Tiefpunkt zunächst schnelle und deutliche Erholung bis 2010

Eine bessere Abwasserreinigung in leistungsfähigeren Kläranlagen hatte in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wieder zu einer besseren Wasserqualität in den europäischen Gewässern geführt. Davon profitierte auch die Artenvielfalt: Wie die aktuelle Studie zeigt, haben sich zwischen 1968 und 2010 sowohl die Artenvielfalt als auch die Häufigkeit einzelner Arten deutlich verbessert – allerdings ohne die ursprüngliche Artenfülle wieder zu erreichen.

Die Forscherinnen und Forscher hatten umfangreiche Zeitreihen wirbelloser Süßwassergemeinschaften ausgewertet, die zwischen 1968 und 2020 gesammelt wurden. „Wirbellose wie Eintags- oder Köcherfliegen sind seit langem ein Eckpfeiler in der Überwachung der Wasserqualität, so dass wir auf eine sehr gute Datenbasis zurückgreifen konnten“, erklärt der Erstautor der Studie, Prof. Dr. Peter Haase vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt, und fährt fort: „Diese Daten zeigen aber auch, dass nach 2010 eine Stagnation eingesetzt hat, die auf eine Erschöpfung der bisherigen Maßnahmen hindeutet“.

Eine Frage des Standorts: Urbane Gebiete, Ackerland und Dämme als Risikofaktoren

Besonders wenig Verbesserungen gab es in Süßwassergemeinschaften unterhalb von Staudämmen und in Einzugsgebieten mit einem hohen Anteil an Siedlungs- oder Ackerland. Um herauszufinden, welche Faktoren die Erholung der Artenvielfalt in diesen Gebieten behindern, kombinierten die Forschenden ein hochaufgelöstes Flussnetz mit Umweltdaten, die die Bedingungen zum Zeitpunkt der Probenahme widerspiegeln.

„Dass sich die Artenvielfalt in manchen Fließgewässern kaum erholt, liegt vor allem daran, dass flussabwärts von städtischen Gebieten Mikroverunreinigungen und Nährstoffeinträge in die Gewässer gelangen und Städte zudem häufig Einfallstore für invasive gebietsfremde Arten sind“, sagt IGB-Forscher und Mitautor Dr. Sami Domisch und erklärt: „Von landwirtschaftlichen Flächen werden dagegen eher Feinsedimente, Pestizide und Düngemittel in die Gewässer gespült. Dämme wiederum zerschneiden die Gewässer und verändern das Abfluss- und Temperaturregime.”

Standorte, die schon heute besonders stark von der Klimaerwärmung betroffen sind, zeigen auch eine geringere Zunahme der Artenvielfalt. Dieser Trend wird sich voraussichtlich verstärken, wenn die Temperaturen weiter steigen und Wetterextreme wie Dürren und Hitzewellen im Sommer zunehmen, befürchten die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Invasive, gebietsfremde Arten als zusätzliche Bedrohung

Besonders auffällig war die weite Verbreitung invasiver Arten: „Basierend auf einem Teildatensatz – 1299 von 1816 – konnten wir zeigen, dass rund 70 Prozent der Flussabschnitte nicht-heimische Arten aufweisen mit einem durchschnittlichen Anteil von 4,9 Prozent der Arten und 8,9 Prozent der Individuen“, berichtet Autorin Dr. Ellen A.R. Welti, Forschungsökologin in den USA am Smithsonian’s Conservation Ecology Center.

Die Forschenden vermuten, dass sich gebietsfremde Arten in Städten und anderen stark belasteten Gebieten besser zurechtfinden. Dies könnte in Zukunft zu einem verstärkten Verlust von seltenen und empfindlichen einheimischen Arten führen.

Das Erreichte genügt nicht: zusätzliche Maßnahmen sind erforderlich

Die bisher ergriffenen Maßnahmen und bereitgestellten Mittel reichen nicht aus, um eine Erholung der Biodiversität zu fördern und einen Rückgang zu verhindern. Angesichts der zu erwartenden Folgen des Klimawandels wie höhere Temperaturen und geringere Wasserführung in den Gewässern müssen Kanalisationsnetze und Kläranlagen weiter ausgebaut, Überläufe aus der Kanalisation bei Starkregenereignissen vermieden und die Einträge von Mikroverunreinigungen, Nährstoffen, Dünge- und Pflanzenschutzmitteln, Salzen und anderen Schadstoffen weiter reduziert werden. Darüber hinaus soll künftig verstärkt auf die Revitalisierung von Gewässern gesetzt werden.

Die Forschenden kritisieren, dass die Umweltgesetzgebung in den letzten Jahren nur unzureichend auf neue Belastungen reagiert hat. Sie empfehlen dringend, denjenigen Standorten mehr Aufmerksamkeit zu schenken, die besonders gefährdet sind, an biologischer Vielfalt zu verlieren, d.h. flussabwärts von Siedlungen, landwirtschaftlichen Flächen und Staudämmen. Auch Systeme, die bisher am wenigsten beeinträchtigt wurden und daher wertvolle Rückzugsgebiete für die biologische Vielfalt darstellen, sollten erhalten und besser geschützt werden.

Der Entwurf des EU-Gesetzes zur Wiederherstellung der Natur (Nature Restoration Law), über dessen endgültige Ausgestaltung derzeit mit dem Europäischen Rat verhandelt wird, sei daher ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung:. „Es reicht längst nicht mehr aus, nur die Wasserqualität zu verbessern, wir müssen großflächig Ökosysteme renaturieren und die Vernetzung der europäischen Fließgewässer entscheidend verbessern“, fasst Sonja Jähnig zusammen. Das verspricht nicht nur einen Schub für die aquatische Artenvielfalt, sondern unterstützt unter anderem auch den natürlichen Hochwasserschutz, den Wasserrückhalt in der Landschaft und die Selbstreinigungskraft der Gewässer.

 

Weiterführende Informationen

Haase, P., Bowler, D.E., Baker, N.J. et al. (2023) The recovery of European freshwater biodiversity has come to a halt. Nature 620, 582–588. https://doi.org/10.1038/s41586-023-06400-1

Institution: Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
Ansprechpartner/in: Sonja Jähnig und Sami Domisch

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