In Zusammenarbeit mit:

Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF)

Triebkräfte von Migrationsströmen und deren Krisenpotenzial  

Ernährung Ernährungssicherheit Klimafolgen Klimawandel
© Jim Black | Pixabay

Moderation: THOMAS SIURKUS | HSFK
Gespräch mit: STEFAN SIEBER | ZALF

Was passiert, wenn verschiedene Faktoren wie zum Beispiel Klimawandel, Kriege und daraus resultierende Gewalt oder eine geringe Ernährungssicherheit zusammenkommen? Eine Projektgruppe setzt es sich zum Ziel, diese Triebkräfte interdisziplinär abzuschätzen und zu untersuchen, welche Folgen dies für Migrationsströme mit sich bringt.

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Mit welcher Art von Krisen beschäftigen Sie sich?

Zurzeit beschäftige ich mich zusammen mit Kolleginnen und Kollegen im Rahmen des Leibniz Forschungsverbundes „Krisen einer globalisierten Welt“ mit dem Projekt „Food, Natural, Manmade-Security Crisis and Driving Forces for Migration“. Dabei befasst sich das Forschungsteam weniger mit Krisen an sich, sondern viel mehr mit den Triebkräften von Migrationsströmen, die potenziell zu Krisen führen können. Dabei ist es uns wichtig zu betonen, dass wir Migration an sich nicht als Krise betrachten.

Am Anfang unserer Forschungsarbeit stand die Beobachtung, dass es viel Literatur und Expertise zu Korrelationen zwischen Migration und verschiedenen einzelnen Triebkräften gibt, wie zum Beispiel dem Klimawandel, Kriegen und daraus resultierender Gewalt oder einer geringen Ernährungssicherheit. Jedoch wurden diese Faktoren von Migration häufig nicht interdisziplinär behandelt. Vor diesem Hintergrund setzt es sich unsere Projektgruppe zum Ziel, diese Triebkräfte zusammen interdisziplinär abzuschätzen und zu untersuchen, was passiert, wenn verschiedene Faktoren zusammenkommen und welche Folgen dies für Migrationsströme mit sich trägt.

Sie untersuchen also keine Krisen, sondern die Umstände, die potenziell zu Krisen führen können?

Genau. Dabei gehen wir vor allem der Frage nach, welche Faktoren Migrationsströme beeinflussen und beschäftigen uns mit Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. Diese Zusammenhänge lassen uns Schlüsse daraus ziehen, welchen Einfluss Faktoren, wie zum Beispiel ein geringes Arbeitsangebot, Naturkatastrophen, Klimawandel, Dürren und Gewalt haben und inwieweit eine Korrelation mehrerer Faktoren Migration beschleunigt. Dabei setzen wir in den Ländern, in denen wir tätig sind, verschiedene Schwerpunkte: In Tansania legen wir unseren Fokus auf den Klimawandel und den Bereich Ernährungssicherheit, während wir in Kolumbien den Zusammenhang zwischen Gewalt und Migration betrachten und in Myanmar auf gesellschaftspolitische Krisen eingehen. Die untersuchten Korrelationen von Faktoren für Migration bringen wir dann in Kontext mit von uns erstellten Typen von Migration. Diese Differenzierung ist notwendig, da sich die Ausgestaltung von Migration stark unterscheidet.

Dazu zwei Beispiele: Migration in Folge von Dürren, welche die Ärmsten der Armen – zumeist Bauern und Bäuerinnen – betrifft, findet meist nur für wenige Monate statt. In dieser Zeit wandern die Betroffenen in die nächstgelegene Stadt und versuchen über Tagelohnarbeiten oder die Unterstützung von Familienangehörigen zu überleben. Nach der Dürre kehren sie wieder in ihre ursprüngliche Heimat zurück, es handelt sich also um eine temporäre Migration in einem regionalen Kontext. Davon unterscheidet sich die Migration von Familien, die vom Einkommen her der Mittelklasse zuzuordnen sind und über angespartes Vermögen verfügen. Für sie ist interkontinentale Migration zumindest eine Option, die in Erwägung gezogen werden kann.

Sie verwenden den Krisenbegriff in Ihrem Projekt explizit nicht. Inwieweit sehen Sie den Begriff negativ konnotiert?

Der Krisenbegriff kann meiner Meinung nach negativ interpretiert werden, wenn wir zum Beispiel an die Wahrnehmung der Flüchtlingskrise denken. Da spielen sehr viele Interpretationen hinein. Daher ist es für unsere Projektgruppe wichtig, das Thema der Migration neutral zu behandeln, denn historisch gesehen hat es Migration schon immer gegeben. Den Krisenbegriff könnte man in unserem Forschungsbereich für die Beschreibung von Situationen verwenden, in denen es zu Leid kommt und Menschen unter prekären Umständen leben, die ausgehend von unserem Wertesystem ethisch nicht vertretbar sind. Wenn die minimalsten Lebensbedürfnisse nicht gedeckt werden können – und dies kann durch die von uns untersuchten Triebkräfte beeinflusst werden –, dann sprechen wir von Krisen. Diese Einordnung ist für uns jedoch ein nachgelagerter Bereich, da wir keine Grenze definieren möchten, wann Krisen eintreten. Außerdem gibt es eine Vielzahl von Krisendefinitionen.

Das Thema Flucht und Migration wird zurzeit kontrovers diskutiert. Welche Prozesse von Migration finden im politischen Diskurs Ihrer Meinung nach zu wenig Beachtung?

Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, die Migration in den jeweiligen Ländern stärker zu betrachten und auf koordinierte Aktionen durch Politikkohärenz, in Hinblick auf die Früherkennung von Krisen und dem Vorgehen dagegen, hinzuarbeiten. Bei der Vorhersage von Hungerkatastrophen funktionieren die Frühwarnsysteme zum Beispiel schon sehr gut. Man kann relativ genau vorhersagen, wann und wo eine Hungerkrise eintreten wird. Was sich jedoch nach wie vor als schwierig gestaltet, ist eine koordinierte Katastrophenvermeidung. Viele Organisationen sind bei der Bewältigung solcher Krisen involviert. Da könnten koordinierende Maßnahmen zwischen den involvierten deutschen Ministerien, dem World Food Programme sowie UNO-Organisationen und der Vielzahl lokaler Nicht-Regierungsorganisationen sowie betroffener Regierungen der Zielländer besser organisiert werden. Diese unmittelbare Umsetzung in konkreten Praxisansätze ist stets die größte Herausforderung.

Inwieweit wirkt sich die Globalisierung auf die von Ihnen untersuchten Prozesse aus?

Die einzelnen Triebkräfte von Migration haben durch die Globalisierung sicherlich erhebliche Veränderungen erfahren. Diese Veränderungen versuchen wir zu erfassen und darüber hinaus herauszufinden, welche Auswirkungen dies auf Migrationsbewegungen hat. Dabei ist es wichtig, fallspezifisch vorzugehen. Denn es kann nicht verallgemeinernd gesagt werden, dass wenn eine Kombination von Triebkräften zusammenfällt, immer eine bestimmte Form der Migration eintritt. Geringe Beschäftigungsmöglichkeiten gebündelt mit einer Naturkatastrophe können in Kolumbien andere Reaktionen auslösen, wie zum Beispiel in Tansania oder Myanmar. Die Fälle unterscheiden sich stark und die Mechanismen für Migration, die stattfinden, sind sehr fallspezifisch. Es ist wichtig diese Unterschiede zu erfassen.

Im Allgemeinen kann jedoch gesagt werden, dass die Globalisierung die von uns untersuchten Prozesse in vielfältiger Weise beeinflusst hat. Im Zeitalter der Globalisierung transportieren Medien viel mehr Informationen als früher und das weltweit. Sie berichten über verschiedene Orte und Ereignisse und teilweise auch darüber, wo man ein besseres Leben führen kann. Durch den Austausch von Informationen über die Medien kann es dadurch zu vermehrter Migration kommen. Diese Migration führt in den Zielländern zu einem interkulturellen Austausch, der die Gesellschaften verändert, wie man auch in Deutschland beobachten kann.

Zur Globalisierung gehört auf der positiven Seite ein steigender Lebensstandard. Jedoch wird dieser begleitet von einer Degradierung der Umwelt und der Thematik des Klimawandels, zu dem – neben einer Vielzahl anderer Ursachen – auch der emmissionsrelevante internationale Welthandel beigetragen hat. Des Weiteren kommt es im internationalen Handel zu stärkeren Preisausschlägen auf dem Weltmarkt, die wiederum zu Krisen führen können. Das sehen wir zum Beispiel in den Ländern, in denen der Arabische Frühling stattfand. Da waren die Preise für Brot sehr hoch. Dies war sicherlich nicht der ausschlaggebende Grund für das Stattfinden der Krise und Revolution. Das Beispiel zeigt jedoch, dass Krisen einer globalisierten Welt multifaktoriell begründet sind und es Trigger aus verschiedenen Bereichen gibt, die eine Revolution mitbegründen können.

Auf welche Herausforderung stoßen Sie bei der Erforschung dieser Prozesse?

Bei der Erforschung dieser Prozesse stoßen wir auf drei große Herausforderungen: Zum einen besteht eine Schwierigkeit bei der Zusammenführung von Daten. Im Bereich der Klimadaten haben wir durch das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) eine sehr gute Basis, welche wir in anderen Bereichen, wie z.B. Gewalt, nicht flächendeckend für alle Regionen haben. Hier stehen wir vor der Herausforderung, Datenlücken zu füllen. Momentan sind wir mit der Erstellung einer Metadatenbank beschäftigt, welche uns anzeigen soll, wo es Datenlücken gibt und wo wir gut aufgestellt sind.

Die zweite Herausforderung liegt in der Entwicklung einer Schätzmethode für Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge von Triebkräften von Migration. Dies versuchen wir zuerst quantitativ, mit Hilfe von Regressionsabschätzungen, zu erreichen. Wenn dies zu keinen guten Ergebnissen führt, versuchen wir zusätzlich qualitative Interviews mit Expertinnen und Experten durchzuführen, um Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge herauszufinden und diese explizit darzustellen.

Die dritte Herausforderung liegt in der Konsolidierung der Daten und der Frage, wie man die verschiedenen Triebkräfte von Migration zusammenbringt, mit der Realität validiert und diese in Schätzverfahren überträgt.

Inwieweit hat sich das Verständnis der Prozesse, welche Sie untersuchen, in den Jahren gewandelt?

Durch die intensive Berichterstattung über Migration in den Medien, wird das Thema in der Gesellschaft stärker aufgefasst und thematisiert. Vor allem während der Flüchtlingskrise hat sich die Interpretation von Migration stark verändert, was wir auch am Rechtsruck in der Politik wahrnehmen. Da ist zu sehen, dass sich die Wahrnehmung der Menschen stark verändert, wenn Politik mit Angst spielt, wie es bei der AfD (Alternative für Deutschland) der Fall ist, oder auch beim US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Dieser hat es wieder salonfähig gemacht, eine Politik gegen Migrantinnen und Migranten zu betreiben, welche mehr und mehr akzeptiert wird. Dahinter verbirgt sich das Schüren von Angst und letztendlich auch ein patriotischer Gedanke. Die Veränderung der politischen Richtung schafft in der Wahrnehmung der Gesellschaft ein komplett anderes Bild, hin zu mehr Schwarz-Weiß-Denken und zu extremeren Positionen.

Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Forschung durch die Zuspitzung der Diskussion in Gesellschaft und Politik politisiert wird?

Diese Erfahrung haben wir bisher nicht gemacht, jedoch wäre es rein theoretisch möglich, dass die Informationen, die wir generieren, genutzt werden, um Politik zu machen. Deswegen ist es uns sehr wichtig, neutral zu bleiben. Wir möchten keine Politik betreiben und wir möchten uns auch davor wehren, dass wir hinsichtlich bestimmter Aussagen auf der politischen Ebene – sei es von links, rechts oder aus der Mitte – missbraucht werden. Wir sehen unsere Aufgabe darin, Informationen zu generieren und Forschungslücken zu schließen, sodass wir die Welt in ihren Zusammenhängen besser verstehen lernen.

Das Leibniz-Prinzip „theoria cum praxi“ zielt auf exzellente Grundlagenforschung und Wissenstransfer. Wie lassen sich Ihre Forschungsergebnisse in die Praxis übertragen?

Wir stellen uns die Frage, inwieweit wir mit unserem Netzwerk intensiver Informationen für die Politik anbieten können. Da versuchen wir momentan ganz konkret mit verschiedenen Ministerien in einen Dialog zu treten und Treffen zu organisieren, um unseren Ansatz zu diskutieren. Ein Wissenstransfer würde für uns konkret bedeuten, Informationen aus unseren Fallstudien weiterzuleiten, die es der Politik unter Umständen ermöglichen, potenzielle Migrationsrisiken besser abschätzen zu können und darauf zu reagieren. Unser Ziel wäre dabei, dass eine höhere Politikkohärenz und eine stärkere Koordination zwischen den einzelnen Ministerien sowie anderen Einrichtungen, unter anderem im internationalen Kontext, erreicht wird. Das ist unsere Idealvorstellung.

Weiterführende Informationen

  • Dr. agr. Stefan Sieber ist Privatdozent an der Humboldt Universität zu Berlin und Leiter der Arbeitsgruppe: „Nachhaltige Landnutzung in Entwicklungsländern“ am Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF).
  • Thomas Siurkus ist Student der Politik- und Rechtswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. In den Jahren 2018 bis 2020 war er als studentische Hilfskraft am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung tätig.
  • Nicole Deitelhoff ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungspolitik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
  • Das Interview wurde am 13. Juni 2018 geführt.
  • Publikation: T. Siurkus & N. Deitelhoff | HSFK (Hrsg.) (2021): Crisis Interviews, LFV-Krisen, ISBN 978-3-946459-60-6
Institution: Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF)
Ansprechpartner/in: Dr. agr. Stefan Sieber

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