Position: Politik für ländliche Räume – Initiativen ernst nehmen, Innovationen unterstützen!  

ländliche Räume
Ländlicher Raum
© Sigmund | Unsplash

Text: PROF. DR. GABRIELA CHRISTMANN, DR. RALPH RICHTER & DR. ARIANE SEPT

Engagiert, kreativ, innovativ – Sozialunternehmen und Initiativen bringen ländliche Räume voran. Die Forschung des IRS zeigt, dass auch Regionen, die als peripher und „abgehängt“ gelten, Potenziale für neue Ideen und Lösungen haben und dieses nutzen. Doch um in der Fläche zu wirken, braucht das Engagement bessere Rahmenbedingungen. Für Politik und Förderpraxis heißt das: Infrastrukturen bereitstellen, Anerkennung stiften und Innovationen zum Durchbruch verhelfen.

Für diejenigen, die lieber hören, statt lesen

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Die Probleme ländlicher Räume, gerade in strukturschwachen und zentrenfernen Regionen, sind bekannt: Abwanderung und Leerstand, Verlust von Kulturangeboten, Dienstleistungen und Infrastrukturen, zu wenig Arbeits-, Bildungs- und Lebensperspektiven. Nicht erst seit der Covid-19-Pandemie zeigt sich im ruralen „Hinterland“ großer Metropolen aber auch ein gegenteiliger Trend, nämlich wachsende Wanderung von der Stadt aufs Land, die neue Herausforderungen mit sich bringt: Gibt es genug Bandbreite, Schienenkilometer und Kitaplätze für die Stadtflüchtigen? Werden neue Pendelverkehre induziert? Funktioniert Home-Office auf Dauer, oder müssen die Büroarbeitsplätze nachziehen?

Wir haben in unserer Forschung danach gefragt, wie neue Lösungen für typische Probleme ländlicher Räume entstehen. Dabei konzentrierten wir uns auf zwei Phänomene: die Entstehungsprozesse sozialer Innovationen, die neuartige Lösungen für die eingangs angesprochenen Probleme hervorbringen, und Sozialunternehmen, die eine soziale oder ökologische Mission mit einem privatwirtschaftlichen Geschäftsmodell kombinieren. Beide sind für die Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume von zentraler Bedeutung. Was wir über sie gelernt haben, sollte nach unserer Auffassung ein wichtiger Orientierungspunkt der Förderpolitik für ländliche Entwicklung sein.

Digitalisierung priorisieren

Neue Ideen werden von Problemen und Gelegenheiten getrieben. Die Grenze zwischen beiden ist nicht scharf und oftmals eine Frage der Wahrnehmung: Ein leerstehender Gasthof ist aus Sicht der Dorfgemeinschaft ein Problem, aus dem Blickwinkel einer zuziehenden Architektin aber vielleicht ein Potenzial. Fehlende Mobilfunk- und Breitbandversorgung schafft den Impetus (Anlass), den alten Dorfladen als Wireless-Hotspot neu zu beleben. Ausgedünnte medizinische Versorgung ist der Anlass für neue Telemedizinkonzepte, ländliches Coworking ist – vielleicht – die Antwort auf fehlende digitale Arbeitsorte, und das per Smartphone buchbare Dorfauto reagiert auf Mobilitätsengpässe. Dies provoziert die Frage, ob die Innovativität der ländlichen Gesellschaft womöglich Versorgungsmängel selbst überwinden kann – und damit den Staat von seiner Verpflichtung befreit, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen.

Die Antwort lautet ganz klar „nein“. Denn die besagten Innovationen entstehen bei Weitem nicht überall und nur unter seltenen Voraussetzungen – dazu später mehr. Der Staat spielt dabei eine widersprüchliche Rolle, mal als Verhinderer, mal als Ermöglicher. In jedem Fall verantwortet die öffentliche Hand wesentliche Rahmenbedingungen – Infrastrukturen, Regularien, Verwaltungskapazitäten, Qualifizierungsangebote – für die Entstehung, vor allem aber für die erfolgreiche Ausbreitung von Innovationen. Wir sprechen uns dafür aus, dass die In­­fra­strukturpolitik für ländliche Räume sich den Gedanken der Innovation zu eigen macht und aktiv die kreativen Ideen aufgreift, die Landbewohnerinnen und -bewohner entwickeln.

Die Digitalisierung muss dabei eine zentrale Position einnehmen. Digitale Tools, digitale Konnektivität und digitale Kompetenzen sind die entscheidende Ressource für die Entwicklung und Umsetzung neuer Konzepte. Mag im Einzelfall die Selbsthilfe bei fehlender Breitbandversorgung ein Innovationsimpuls sein, so überwiegt bei weitem die Rolle der Digitalisierung als Ermöglicher, für Medizin, gegenseitige Hilfe, Nahversorgung, Mobilität, Bildung, Unternehmertum und Arbeit. Fast alle Dörfer haben zudem in jüngerer Zeit einen Verlust an Kommunikation im und über den Ort erlebt, einen Verlust also am wichtigsten „Klebstoff“ einer Gemeinschaft. Wir haben beobachtet, dass digital vermittelte Kommunikation zu verbesserter Face-to-face-Kommunikation führen und somit Dörfer neu beleben kann, wodurch diese wiederum attraktiver für Zuziehende werden. Jede Strategie für ländliche Räume muss deshalb auch die digitale Handlungsfähigkeit aller Menschen in diesen Räumen in jedem Schritt mitdenken. Breitband an jeder Milchkanne? Ja, bitte.

Staat oder Gesellschaft? Staat und Gesellschaft!

Eine Ebene tiefer, bei der Frage, wer konkret neue Lösungen vorantreibt, zeigt sich ein weiteres Mal, dass die Dichotomie, d. h. Gegenüberstellung „Staat versus Gesellschaft“ nicht trägt. Sozial-innovative Initiativen werden von einer großen Bandbreite engagierter Personen vorangetrieben: Zugezogene und Alteingesessene, Fachleute und Laien, Bürgermeisterinnen und -meister sowie Gemeindevertreterinnen und -vertreter. Auffällig ist dabei, dass nicht die Zivilgesellschaft allein Trägerin der Initiative ist, sondern staatliche Stellen auf unterschiedlichen Ebenen mitwirken. Gerade die Verwaltung auf Kreis- und Gemeindeebene gibt dabei oft den Ausschlag. Ist sie fit und engagiert – was sie vielerorts ist, wenn auch bei Weitem nicht immer und überall – multipliziert sie die Wirkmacht der Bürgerinnen und Bürger. An dieser zentralen Rolle lässt sich festmachen, wie essenziell es ist, die Verwaltung digital zu ertüchtigen. Ministerien auf Landes- und Bundesebene leisten wiederum wichtige Beiträge für überörtliche Vernetzung und die Verbreitung neuer Konzepte.

Ein Organisationstyp steht besonders für das Handeln an durchlässigen Systemgrenzen, nämlich das Sozialunternehmen. Ob in Pflege, Bildung, Inklusion, Tourismus, Landwirtschaft, Handel, Kultur oder regionaler Entwicklung: Sozialunternehmen erschließen auf kreative Weise neue Geschäftsmodelle und verfolgen damit eine soziale oder ökologische Mission. Sie bringen so selbst soziale Innovationen hervor oder beteiligen sich an ihrer Entstehung. Sozialunternehmen sind zu einem gewissen Maß gewinnorientiert, führen ihre Profite aber nicht an externe Investoren ab. Regelmäßig subventionieren sie mit einem Geschäftsbetrieb, etwa einem Einzelhandelsangebot, eine soziale Agenda, etwa im Bildungsbereich. In einer Studie für das brandenburgische Wirtschaftsministerium konnten wir zeigen, dass Sozialunternehmen im ländlichen Raum überdurchschnittlich präsent sind und in hohem Maß ländliche Problemstellungen adressieren, etwa in Landwirtschaft und Umweltschutz.

Sozialunternehmen stoßen in Lücken vor, die der Staat gelassen hat, sie ersetzen ihn jedoch nicht. Sie handeln anders als öffentliche Einrichtungen. Ihre Vernetzung vor Ort, aber auch über die Region hinaus, ermöglicht es ihnen, lokale Gelegenheiten zu erkennen und sie mit „importierten“ Ideen zu innovativen Ansätzen zu rekombinieren. Sozialunternehmen kooperieren dabei mit der öffentlichen Hand und sind auch auf ihr Entgegenkommen angewiesen.

In diesem offenen Raum des Zusammenwirkens sind Sichtbarkeit und Anerkennung ein geteiltes Gut, das es zu kultivieren gilt. Bürgerschaft und Lokalpolitik in Landgemeinden, aber auch lokale Verwaltungen müssen als Gestalter ländlicher Räume ernst genommen werden und gerade von höheren administrativen Ebenen die entsprechenden Ressourcen und Spielräume bekommen. Sozialunternehmen benötigen umgekehrt mehr Anerkennung in Verwaltungen und Ministerien, wo immer noch der klassische privatwirtschaftliche Investor das Bild von Unternehmen prägt. Die Szene der Sozialunternehmen selbst ist oft zu wenig vernetzt und sich ihrer Rolle nicht immer bewusst. Sie muss – nach innen und nach außen – sichtbarer werden. Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen, von einem Preis für das Sozialunternehmen des Jahres bis zu einer Reform des restriktiven Steuerrechts für gemeinnützige Organisationen, würden helfen.

Innovationsfreundliche Förderlandschaft

Soziale Innovationen lassen sich nicht erzwingen. Ihre Entstehung hängt davon ab, ob zahlreiche begünstigende Faktoren zusammenkommen. Beispielsweise so: Im Gespräch vor Ort erkennen Menschen ein Problem als Gelegenheit. Ein Blick von außen kann bei dieser Umdeutung helfen, oft sind deshalb Zugezogene oder Zurückkehrende die kreativen Impulsgeber. Aus eigenen Erfahrungen und erkannter Gelegenheit generieren sie eine Idee. Die Idee wird im kleinen Kreis geteilt, erfährt Unterstützung und wird von einem oder mehreren Schlüsselfiguren – ein Oberbegriff für besonders engagierte, führungsstarke und vernetzte Personen – entschieden vorangetrieben. Dank guter Vernetzung und Vorerfahrung können Fördermittel eingeworben, ein Pilotprojekt gestartet, vielleicht ein Sozialunternehmen gegründet werden. Externe Expertise kommt dazu: Fachleute von außen bringen technische, administrative und strategische Kompetenzen ein, professionalisieren das Projekt. Menschen nutzen das neue Angebot, erst am Ort, dann darüber hinaus. Das Projekt kann ausgeweitet werden, gewinnt eine breite Nutzerbasis und wird irgendwann zum Referenzprojekt für andere Regionen.

Wir haben diese – idealisierte – Abfolge einer erfolgreichen Innovation in Phasen systematisiert. Jede dieser Phasen bringt ihre eigenen Herausforderungen mit, und an jeder dieser Herausforderungen kann eine Innovation scheitern. Wir haben deshalb Maßnahmen benannt, die auf unterschiedlichen politisch-administrativen Ebenen phasensensibel eingesetzt werden können, um sozialen Innovationen in ländlichen Räumen zum Durchbruch zu verhelfen. In der Latenz- und Problematisierungsphase kommt es darauf an, dass Kommunikation überhaupt zustande kommt. Dafür müssen Räume geschaffen werden, digital (z. B. Plattformen) und „analog“ (z. B. Begegnungsorte in Dörfern). In der Entstehungsphase geht es darum, die richtigen Personen zu finden und anzusprechen, die ein Projekt vorantreiben können, und ihnen Ressourcen an die Hand zu geben. Dazu braucht es Netzwerke und Hilfe bei der Fördermittelbeantragung. In der Justierungsphase werden Kinderkrankheiten ausgemerzt und eine neue Lösung wird in die Breite getragen. Dafür braucht es Zugang zu Expertise, regulatorisches Entgegenkommen – und finanzielle Förderung.

Apropos Geld. Eigentlich gibt es ausreichend Projektförderung für ländliche Räume. Die Förderlandschaft setzt aber überwiegend an Wirtschaftsbranchen an, etwa Tourismus oder Landwirtschaft. Damit liegt sie quer zur Logik sozialer Innovationen, die sich über Sektoren hinweg ähneln und oft mehrere Bereiche miteinander verknüpfen, sich aber stark je nach Entwicklungsstand unterscheiden. Gerade in der Frühphase fehlt den Akteuren zudem meist das Wissen über passende Förderprogramme. Statt weitere Mittel für ländliche Innovationsförderung zu fordern, empfehlen wir deshalb, die bestehende Förderlandschaft viel stärker sektorübergreifend zu gestalten und materielle wie auch immaterielle Maßnahmen (Coaching, Beratung, Networking) auf die konkreten Bedarfe der Menschen auszurichten, die in ländlichen Räumen innovative Ideen vorantreiben. Ideen lassen sich weiterhin nicht erzwingen. Aber die Chance, dass sie entstehen, lässt sich steigern. Ihr Erfolg sollte künftig weniger vom Zufall und mehr von ihrem Potenzial abhängen.

Weiterführende Informationen

IRS aktuell – Magazin für Raumbezogene Sozialforschung, No 96 | Juli 2021: Sozial und digital Innovationen für das Landleben.

Ansprechpartner/in: Prof. Dr. Gabriela Christmann, Dr. Ralph Richter & Dr. Ariane Sept

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