In Zusammenarbeit mit:
Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie (ATB)
Die Kraft der Bäume
Text: SEBASTIAN KRETZ
Bisher galt: Aufs Feld gehört kein Baum gepflanzt! Der Ingenieur Ralf Pecenka vom Potsdamer Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie (ATB) erklärt, warum es sich lohnen kann.
Deutschland, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, trennt gern. Papier- von Plastikmüll, Blumenbeete von Feinrasen, Rechnungen im Restaurant. Die Dinge sauber auseinanderzuhalten, kann hilfreich sein beim Sortieren und Verwalten und Bewerten. Es kann aber auch dazu führen, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht.
Womit wir mitten im Thema Agroforst wären. Noch nie gehört? Das ist kein Wunder: Die Idee des Agroforsts pflügt eine in Jahrhunderten des Trennungsfleißes gewachsene Grenze gründlich um, nämlich die zwischen Forst- und Landwirtschaft. Bis vor kurzem galt: Auf Feld und Acker darf kein Baum wachsen. Wächst er doch, darf er nicht wieder entfernt werden. Was Bauern faktisch dazu zwang, ihre Flächen mit einjährigen Pflanzen wie Weizen, Mais, Sonnenblumen oder Kohl zu bestellen. Seit dem 1. Januar 2023 aber erlauben die gemeinsame europäische Agrarpolitik und ihre Umsetzung in deutsches Recht Landwirten, Gehölze zur späteren Ernte anzubauen. Was nicht nur zu mehr Vielfalt auf dem Acker führen, sondern auch – dazu später mehr – einen Beitrag zur Energiewende leisten soll.
“Einfach gesagt bedeutet Agroforst genau das: dass auf Feldern zusätzlich Bäume angepflanzt werden”, sagt Ralf Pecenka. Pecenka trägt leicht verstrubbeltes Haar und ein Holzfällerhemd über einem waldfarbenen Shirt; eigentlich ist er Ingenieur für Maschinenbau, erforscht aber inzwischen am ATB den Anbau von Energie- und Faserpflanzen wie Hanf oder eben Bäumen wie Pappeln und Weiden. “Agroforstgehölze stehen meist nicht einzeln auf dem Acker herum, sondern in Reihen, die ein Feld regelmäßig unterteilen”, erklärt Pecenka.
“Landwirte, die den Begriff Agroforst zum ersten Mal hören, stellten meist dieselbe Frage”, sagt Pecenka: “Warum sollte ich das tun?” Sie seien daran gewöhnt, jedes Jahr neu zu entscheiden, was sie anpflanzen. Diese Entscheidung träfen sie abhängig von der Lage am Markt. Verspreche etwa Weizen zur nächsten Erntezeit einen höheren Gewinn als Sonnenblumen, entschieden sie sich für das Getreide. Mit Gehölzen dagegen müssten sie sich für viele Jahre festlegen.
“Aber es gibt gute Gründe”, sagt Pecenka, “die für ein Agroforstsystem sprechen.” Gerade auf weiten, ungeschützten Ackerflächen wie in Brandenburg führe starker Wind zur Austrocknung der Flächen und mindere die Erträge. Eine Baumreihe quer übers Feld lindere dieses Problem. Außerdem könnten die Gehölze beispielsweise Hühnern in Freilandhaltung Schutz bieten. “Manche Landwirte bauen Walnuss- oder Obstbäume an”, sagt Pecenka. “Die können sie doppelt nutzen. Zuerst ernten sie die Früchte, später lassen sich die Stämme zu hochwertigem Furnierholz verarbeiten.” Furniere sind hauchdünne Holzschichten, mit denen etwa im Möbelbau Spanplatten oder billigeres Massivholz verkleidet werden.
Da Bäume viel tiefere und dickere Wurzeln ausbilden als herkömmliche Feldfrüchte, verbessern sie langfristig auch den Boden. Die feinen Ausläufer der Wurzeln sterben regelmäßig ab und erzeugen so wertvollen Humus. Dabei hinterlassen sie Hohlräume, die Wasser speichern und die Qualität der Erde weiter verbessern.
Besonders interessieren sich Pecenka und sein Team aber für eben jene Art der Nutzung von Agroforstsystemen, die helfen soll, den Klimawandel zu bremsen. Sie lässt sich am ATB, inmitten von Feldern und weit außerhalb des Potsdamer Zentrums, ideal erforschen. Pecenka zieht einen blauen Parka über das Holzfällerhemd und stapft von den historischen Gutsgebäuden, in denen das Institut untergebracht ist, auf einen Feldweg. Der führt zum 30 Hektar großen Versuchsgelände des ATB – im Prinzip ganz normale Felder, auf denen in langen, gleichmäßig gesetzten Reihen Pflanzen wachsen. Nur dass da eben keine Getreidehalme stehen, sondern über acht Meter hohe Pappeln. Um einen ihrer Stämme zu umfassen, braucht ein Erwachsener beide Hände.
“Diese Bäume haben wir vor fünf Jahren gepflanzt”, sagt Pecenka. Derart schnell wachsendes Holz sei zu weich für Dielen oder Dachbalken. “Aber es ist ein hervorragender Energieträger.” Das getrocknete Holz aus einem Hektar – also etwas mehr als einem Fußballfeld – Pappeln, so Pecenka, liefere etwa denselben Brennwert wie 4.000 Liter Heizöl (genug, um ein gut gedämmtes 120-Quadratmeter-Reihenhaus vier Winter lang zu beheizen). Etwa 30 Jahre lang lassen sich solche Agrarholzplantagen alle vier Jahre ernten (sie waren bereits vor 2023 erlaubt, allerdings – dem deutschen Trennungsfleiß sei Dank – unter deutlich strengeren Auflagen).
Er führt zu einem weiteren Pappelbestand, der anderthalb Jahre zuvor erstmals geerntet wurde. Aus den alten Stämmen sind neue, mehr als mannshohe Bäumchen emporgewachsen. Als er sich nähert, raschelt es heftig im Unterholz. “Rehe fühlen sich in dem dichten Bewuchs äußerst wohl”, sagt Pecenka.
Das Gerät, mit dem die Pappeln geerntet werden, hat der Maschinenbauer selbst mitentwickelt. Es kann an jedem Traktor befestigt werden und funktioniert wie ein sehr groß und sehr robust geratener Rasenmäher. Die weichen Stämme mäht es wie Maishalme. In einem zweiten Arbeitsschritt häckselt es das Holz und spuckt es auf die Ladefläche eines Begleitfahrzeugs.
Der Weg zurück auf das Gelände führt an einer mächtigen Halde vorbei. Mit den hier aufgeschütteten Hackschnitzeln aus der letzten Holzernte ließen sich mühelos ein paar Blauwale ausstopfen. Pecenka schließt die Tür zu einem unscheinbaren Gebäude mit Wellblechdach auf. Einen erheblichen Teil der Halle, die sich dahinter befindet, nimmt ein knallrot lackierter Quader von der Größe eines Kleinbusses ein. An dessen Vorderseite öffnet Pecenka eine metallene Klappe, die an eine Tresortür erinnert. Dahinter brennt lichterloh ein Feuer aus zerkleinertem Pappelholz. “Wir beheizen beinahe das gesamte Institut mit Hackschnitzeln aus unserem Versuchsgelände”, sagt Pecenka (das ATB hat 250 Mitarbeitende und besteht aus einem guten Dutzend Gebäuden). Auch außerhalb der Forschung liefern Hackschnitzel bereits Wärme – und sogar Strom: Teile der Berliner Hochhaussiedlung Märkisches Viertel etwa werden auf diese Weise mit Energie versorgt.
Das ist der Kern der Idee des Agroforsts: Solange die Gehölze auf dem Feld stehen, spenden sie Schatten, bremsen Wind und verbessern die Qualität des Bodens. Geerntet beheizen sie den Bauernhof, womöglich auch noch benachbarte Siedlungen. Zwar lassen sich aus fein gehäckseltem Pappelholz auch Faserstoffe herstellen, die sich beispielsweise als Dämmmaterial eignen. “Aber die Nutzung als Brennstoff haben wir am gründlichsten erforscht”, sagt Pecenka.
Gegenüber fossilen Brennstoffen hat schnell wachsendes Holz einen entscheidenden Vorteil: Zwar setzt es, um dieselbe Energie zu erzeugen, etwa um drei Viertel mehr CO2 frei als Erdgas und etwa um ein Viertel mehr als Heizöl. Aber die Treibhausgase, die in fossilen Energieträgern gebunden sind, wurden der Atmosphäre vor Jahrmillionen entzogen. Sie freizusetzen, beschleunigt den Klimawandel. Verbrennen dagegen Pappel-Hackschnitzel, entweicht ausschließlich Kohlendioxid in die Luft, das ihr die Bäume während ihres kurzen Wachstums entzogen haben – zumal die Wurzeln, die weit über ein Drittel der Gesamtmasse eines Baums ausmachen können, im Boden bleiben. “Unser Heizwerk ist CO2-neutral”, sagt Pecenka.
Allerdings entweicht das Treibhausgas auch beim Verbrennen von Holz schneller in die Luft, als es ihr zuvor entzogen wurde. “Wenn ich aber jedes Jahr ein Viertel meines Bestandes an Pappeln ernte, habe ich eine Art geschlossenes System, in dem ich unterm Strich kein neues CO2 emittiere”, sagt Pecenka. Schließlich sei ein Bestand vier Jahre nach der Ernte erneut reif, abgeholzt zu werden.
Anne Merfort, die am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung untersucht, wie Kohlendioxid-Emissionen eingespart werden können, hält das grundsätzlich für eine plausible Rechnung. “Es ist aber sehr kompliziert, die Bilanz des gesamten Systems zu bestimmen. Deshalb gibt es bisher keinen wissenschaftlichen Konsens, ob es gut oder schlecht für das Klima ist, Holz als Wärmequelle zu nutzen.” Zumal, so Merfort, Holzplantagen viel Platz benötigten. “Wenn zum Beispiel eine Holzplantage ein Weizenfeld ersetzt und stattdessen auf abgeholzten Regenwaldflächen angebauter Weizen importiert wird, schadet das dem Klima.”
Eine umfassende Studie, die die gesamte CO2-Bilanz eines Agroforst-Heizsystems untersucht, liegt bisher nicht vor. “Langfristig”, sagt Merfort, “sollte keine Biomasse mehr verbrannt werden, wenn für die Energiegewinnung Solar- oder Windkraft genutzt werden können.” Für den Übergang sei es aber sicher besser, schnell wachsende Pflanzen zu verwenden als Öl oder Gas.
In vielen Mittelmeerländern sind Agroforstsysteme seit Jahrhunderten normal – auch wenn Bäume dort eher zum Schutz vor der Sonne dienen als zur Gewinnung von Brennmaterial. Aber auch in Deutschland beginnt die Idee, sich zu verbreiten. “Agroforstsysteme können sehr gut funktionieren”, sagt etwa Tobias Cremer, Forstwissenschaftler an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (HNEE). Auch die HNEE betreibt ein entsprechendes Projekt, allerdings mit langsamer wachsenden Furnierhölzern wie Wildbirne und Stieleiche.
Und auch Cremer hat – wie Ralf Pecenka vom ATB – die Erfahrung gemacht, dass viele Bauern zunächst skeptisch sind, wenn sie sich langfristig auf eine Pflanzenart einlassen sollen: Zurzeit gibt es in Brandenburg nicht mehr als zehn Agroforst-Betriebe. Die Bundesregierung rechnet in ihrem Agrar-Strategieplan allerdings damit, dass die entsprechend bewirtschaftete Fläche bis 2026 auf 200.000 Hektar wächst. Das entspricht gut zweimal der Fläche Berlins.
“Unterm Strich können sich Agroforstsysteme wirtschaftlich lohnen”, sagt Cremer. Zumal Bäume für ihr Wachstum weder Dünger noch den Einsatz schwerer Maschinen erforderten. Durch Windschutz und eine verbesserte Bodenqualität könne außerdem der Ertrag der zwischen den Baumreihen mit Feldfrüchten bestellten Flächen steigen.
Über Agroforste dürften sich auch viele Waldtiere freuen: Vielerorts zerschneiden Getreide- oder Gemüsefelder ihre Lebensräume. Gehölzstreifen, die von einem Feldrand zum anderen reichen, bieten ihnen Deckung – und schaffen so nebenbei eine Art Verkehrswegenetz für wanderndes Wild.